JUGEND für Europa: Wie kam es überhaupt zu der Idee für das Europäische Solidaritätskorps?
von Hebel: Die Idee zum Europäischen Solidaritätskorps geht zurück auf die Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur Lage der Union am 14. September 2016. Die Rede war die erste umfassende Antwort der Kommission nach der Brexit-Entscheidung des Vereinigten Königreichs im Juni 2016.
Juncker beschwor darin den Zusammenhalt der EU und forderte die Mitgliedstaaten auf, deutlich mehr Verantwortung für die EU zu übernehmen. So schlug er unter anderem die Einrichtung eines Europäischen Solidaritätskorps (ESK) vor. Insbesondere für junge Menschen bietet das ESK die Möglichkeit, sich sowohl solidarisch mit anderen Menschen zu zeigen, als auch Solidarität in Europa und über die Grenzen hinweg zu zeigen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa zu stärken.
Wie ging es dann weiter?
Junckers Rede folgte eine Mitteilung der Europäischen Kommission zum Europäischen Solidaritätskorps im Dezember 2016. Im Mai 2017 schließlich legte die Kommission einen Vorschlag zur Festlegung des rechtlichen Rahmens für das ESK vor, der gegenwärtig im Rat der EU sowie im Europäischen Parlament beraten wird. Vorgesehen ist, das Europäische Solidaritätskorps ab 2018 als Programm bis 2020 umzusetzen.
Worum geht es dabei inhaltlich?
Das Europäische Solidaritätskorps ist eine neue Initiative der Europäischen Union. Es schafft Möglichkeiten für junge Menschen, sich in gemeinwohlorientierten Freiwilligen- oder Beschäftigungsprojekten in ihrem eigenen Land oder im Ausland zu engagieren, die Gemeinschaften und Menschen in ganz Europa zu Gute kommen. Damit fördert das Programm die aktive europäische Bürgerschaft junger Menschen.
Auf der persönlichen Ebene soll es jungen Menschen ermöglichen, sich in hochwertigen solidarischen Tätigkeiten zu engagieren und zugleich neue Fähigkeiten und Kompetenzen zu erwerben. Gesellschaftlich sollen über das ESK hochwertige solidarische Aktivitäten angeboten werden, die auf gesellschaftliche Bedürfnisse eingehen und so das Gemeinwohl und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
Was haben die Teilnehmenden davon?
Konkret bietet die Teilnahme am Europäischen Solidaritätskorps jedem jungen Menschen eine wertvolle Erfahrung. Sie ist hilfreich für die eigene persönliche und soziale Entwicklung und den Erwerb von Schlüsselkompetenzen. Damit kann das Programm zum Beispiel Teilnehmer/-innen bei Bewerbungen um einen Arbeits- oder Studienplatz unterstützen.
Das Europäische Solidaritätskorps kann Gelegenheit für junge Menschen sein, sich auf der persönlichen und sozialen Ebene weiterzuentwickeln und mit Blick auf die berufliche Orientierung zu bewähren.
Ist der Name ESK nicht ein bisschen sperrig? Korps klingt doch auch militärisch...
In der Tat klingt der Begriff Korps – insbesondere im Kontext mit einem Programm für junge Menschen – für deutsche Ohren ziemlich fremd. Kollegen in anderen Ländern geht das allerdings nicht unbedingt so. Man kann den Begriff ja auch mit Aspekten wie Teamgeist, Zusammenarbeit und Zusammenhalten oder eben Solidarität verbinden. Aber in deutscher Sprache ist die Assoziation eben zunächst mal eine militärische oder eine, die an den Korpsgeist studentischer Verbindungen erinnert.
Insofern ist der Begriff auch in den Stellungnahmen zum Vorschlag der Kommission für das ESK durchaus umstritten und wird weiter diskutiert. Es gibt auch alternative Vorschläge: Das Europäische Parlament hat zum Beispiel in seinem ersten Berichtsentwurf zum Programmvorschlag den Titel "Europäische Solidaritätsinitiative" eingebracht. Wir werden sehen, welchen Namen das Programm am Ende der Verhandlungen hat.
Werden die Teilnehmenden des ESK finanziell unterstützt?
Die Freiwilligen erhalten keinen Lohn, die Kosten für Reise, Unterkunft, Verpflegung und Versicherung werden aber für die Dauer der Aktivität übernommen. Vor Projektbeginn, bei Eintreffen vor Ort und während der Tätigkeit wird es Trainings- und Unterstützungsangebote geben, wie wir sie bereits jetzt im Rahmen des EFD kennen.
Im Vergleich mit dem bisherigen Europäischen Freiwilligendienst im Programm Erasmus+ soll das ESK um eine beschäftigungspolitische Komponente erweitert werden. Neben den Freiwilligenaktivitäten soll das ESK auch Praktika oder Jobs bieten, für die die Teilnehmenden eine Aufwandsentschädigung erhalten.
Diejenigen, denen ein Arbeitsplatz angeboten würde, erhalten in dem Fall einen Arbeitsvertrag und einen Lohn im Einklang mit den örtlichen gesetzlichen und tariflichen Gegebenheiten.
Da scheinen Reibungspunkte vorprogrammiert zu sein.
Tatsächlich sind die beschäftigungspolitischen Aspekte des Programms nicht unumstritten. Zum einen wird eine signifikante Auswirkung auf den Arbeitsmarkt infrage gestellt, zum anderen gestaltet sich eine klare Abgrenzung von Freiwilligentätigkeiten, Beschäftigung und Praktika durchaus schwierig, was wiederum die Möglichkeiten von Missbrauch eröffnen könnte.
Welche Werte will das ESK vermitteln?
Das ESK stellt die Begriffe Europa und Solidarität in den Mittelpunkt. Durch konkretes freiwilliges und solidarisches Handeln will es den Zusammenhalt von Menschen in Europa über Grenzen hinweg stärken und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb Europas stärken.
Mehr Bewusstsein, Verständnis und Unterstützung für andere Menschen auf der individuellen Ebene stärkt die Gesellschaft, verhindert Ausgrenzung und bekämpft Vorurteile und Gewalt. Die alte, einfache Formel, die sowohl im Kleinen wie auch auf der europäischen Ebene gilt.
Was unterscheidet das ESK von anderen Programmen wie zum Beispiel "Weltwärts"?
Der große Vorteil, den das ESK, wie auch schon der EFD oder Erasmus+ insgesamt haben, ist die Gegenseitigkeit. Wir können das ESK in allen Programmländern mit der mehr oder weniger gleichen Infrastruktur umsetzen. Das Programm steht allen jungen Menschen aus allen beteiligten Ländern offen und bietet somit Raum für echten Austausch und gegenseitiges voneinander Lernen. Den Entsendungen aus dem einen Land stehen immer auch Aufnahmen aus dem anderen Land gegenüber. Damit vergrößert sich die Wirkung des Programms immer über die individuell teilnehmenden jungen Menschen hinaus auf die beteiligten Organisationen und lokalen Gemeinschaften.
Fallen da auch Länder hinten runter?
Ich habe da eine klare Meinung: Wir sollten jetzt nicht den Fehler machen, das Programm auf die Mitgliedstaaten der EU zu beschränken, wie es die Kommission vorgeschlagen hat. Das würde den Solidaritätsgedanken des Programms unterlaufen, jugendpolitisch einen Rückschritt in den Beziehungen zu den Partnerländern und Drittstaaten im Erasmus+ Programm bedeuten und unnötige bürokratische Hürden aufbauen.
Warum sollten sich deutsche Teilnehmer solidarisch in einen anderen EU-Mitgliedsstaat engagieren? Warum sollten sich Jugendliche aus anderen EU-Mitgliedsstaaten in Deutschland engagieren?
Es gibt ein europäisches zivilgesellschaftliches Gemeinwesen. Die Entwicklung eines europäischen Gemeinwesens, eines europäischen Alltags und einer lebensweltlichen Realität insbesondere in der Arbeit mit jungen Menschen muss im Zentrum europäischer Bildungs- und Jugendprogramme stehen.
Das Europäische Solidaritätskorps symbolisiert das zumindest in seiner Zielsetzung in idealer Weise. Es stärkt eben nicht nur die individuell teilnehmenden jungen Menschen, sondern erreicht in seiner Wirkung auch die beteiligten Organisationen, Träger und Einrichtungen. In diesem Zusammenhang stellt das künftige Programm eine Reihe von gezielten Unterstützungs- und Vernetzungsangeboten für Teilnehmende, Fachkräfte und Träger zur Verfügung.
Damit fördert das Programm den Aufbau einer europäischen Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft muss systematisch und strukturiert in einen zivilen Dialog zur Gestaltung europäischer Politik eingebunden sein. Soll Europa sozial und lebensweltlich sein, muss sich die Kinder- und Jugendhilfe und die politische Bildung weitaus mehr als bisher Europa zu eigen machen.
Wie fügt sich das ESK in die EU-Jugendstrategie ein? Kann es auch als Instrument für die Umsetzung der EU-Jugendstrategie dienen?
Die Umsetzung des Europäischen Solidaritätskorps ohne Einbindung in die Umsetzung der EU-Jugendstrategie ist nicht denkbar. Und umgekehrt. Das Programm kann nicht losgelöst stehen und braucht eine starke politische Verankerung.
Das ESK hat aufgrund seiner Genese und seiner Herleitung aus dem Zustand der EU nach dem Brexit-Votum innerhalb der Kommission und insgesamt auf der europäischen Ebene einen sehr hohen politischen Stellenwert. Noch nie waren jugendpolitische Zielsetzungen auf EU-Ebene politisch so hoch verankert. Zahlreiche Kommissare und Generaldirektionen sind derzeit mit der Entwicklung des Programms befasst. Das ist ein sehr positives Signal für junge Menschen in Europa.
Konkret muss es aber in den nächsten Jahren darum gehen, das Europäische Solidaritätskorps und Erasmus+ JUGEND IN AKTION sinnvoll miteinander zu verbinden und beide Programme zum Nutzen junger Menschen erfolgreich umzusetzen. Den Rahmen dafür bietet auch in Zukunft die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa im Rahmen der EU-Jugendstrategie, die genauso wie das Programm Erasmus+ in den nächsten Jahren neu verhandelt und weiterentwickelt werden wird. Das ESK muss künftig darin seinen festen Platz haben.
Wofür will JUGEND für Europa in Zukunft mit dem ESK stehen?
Europa muss spürbar mehr für junge Menschen tun. Eine umfassende, sozial orientierte Politik zugunsten junger Menschen gibt es in Europa bisher nicht. Gleichzeitig müssen wir einen Rückfall in die Zeiten des Nationalismus verhindern.
JUGEND für Europa wird sich, ganz im Sinne der Programme Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps, auch weiterhin für ein offenes und soziales Europa einsetzen, das ein menschenwürdiges Leben für alle ermöglicht und friedlich, solidarisch, demokratisch, vielfältig und tolerant ist. Das Solidaritätskorps kann ein Beitrag und ein Anstoß für eine Erneuerung der europäischen Idee sein. Dabei stehen vor allem junge Menschen im Mittelpunkt, für die Europa nicht nur ihre jetzige, sondern auch ihre zukünftige Lebensgrundlage darstellt.
(Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa / Bild: Marcus Gloger)
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Link: Aktuelle Informationen zum Stand der Dinge bei der Einführung des Europäischen Solidaritätskorps erhalten Sie hier...