Zwischen Kontinuität und Veränderung: Das Europäische Solidaritätskorps wird Programm

JUGEND IN AKTION

Gerade Mal zehn Monate ist es her, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Idee eines Europäischen Solidaritätskorps vorgestellt hat. Seit Ende Mai liegt nun der ein Rechtsvorschlag als Grundlage für das neue Programms vor, das zum 1. Januar 2018 Realität werden soll. JUGEND für Europa lud Fachkräfte und Politiker ein in den Dialog zu treten.

Günther Oettinger hält eine Rede an einem Podium

Günther Oettinger, EU-Kommissar für Haushalt und Personal

„Ich habe noch nie ein EU-Programm erlebt, dass so schnell erarbeitet wurde“, eröffnete Moderatorin Dr. Helle Becker den Tag des Austauschs im Europäischen Haus in Berlin. Rund 120 Multiplikatoren waren auf Einladung von JUGEND für Europa und der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland gekommen, um den aktuellen Stand zu erfahren, Fragen zu stellen und Kritik zu äußern. Das „Europäisches Solidaritätskorps“ (ESK) bietet jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren die Möglichkeit, durch einen Freiwilligendienst, ein Praktikum oder eine berufliche Tätigkeit Solidaritätsprojekte in der EU zu unterstützen, sich für Europa zu engagieren. Der Freiwilligendienst wurde flexibler gestaltet und kann für eine Dauer von wenigen Wochen bis zu einem Jahr ausgeübt werden. Im Rahmen des Beschäftigungszweigs erhalten junge Menschen einen Arbeits- oder Praktikumsplatz in Organisationen. Auf den Freiwilligendienst entfallen 80 Prozent des vorgesehenen Budgets, für den Beschäftigungsstrang 20. Mögliche Tätigkeitsbereiche sind Bildungs- und Gesundheitswesen, Integration, Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Bau von Unterkünften Renovierung und Verwaltung, Umweltschutz und Prävention von Naturkatastrophen. Das ESK soll bis Ende 2020 insgesamt 100.000 Teilnehmer mobilisieren.

Das Europäische Solidaritätskorps wird Programm

Richard Kühnel, Leiter der Europäische Kommission in Berlin, betonte in seiner Begrüßung, dass das ESK eine sinnvolle Ergänzung zum eher akademisch geprägten Erasmus-Programm sei: „Mit dem Solidaritätskorps können Jugendliche an der Lösung sozialer Herausforderungen in der EU praktisch mitwirken – unabhängig von Bildung, Qualifikation und gesellschaftlichem Stand.“ Es brauche mehr Selbstbewusstsein und Zukunftsmusik in der EU als Angst und da seien die Jugendlichen eine wichtige Stütze.

Vorgesehen ist, dass der bewährte Europäische Freiwilligendienst(EFD) im ESK aufgeht. Hans-Georg Wicke, Leiter von JUGEND für Europa, lud dazu ein, sich noch bis Ende des Jahres an der Debatte um den vorliegenden Rechtstext zu beteiligen: „Es gibt gerade jetzt kein stärkeres Symbol für Europa als das sich junge Menscehn in und für Europa siolidarisch engagieren. Dafür bietet das Solidaritätskorps einen erweiterten Rahmen. Zudem bedeute es eine Erweiterung des jugendpolitischen Handlungsspielraums in Europa und mehr politisches Gewicht. Lange haben wir über die europäische Bürgerschaft gesprochen, das rückt jetzt in den Mittelpunkt und eine soziale Dimension von Europa wird mitgedacht“, so Wicke.

ESK ist eigentlich Europäischer Freiwilligendienst PLUS

Zu Gast war auch Günther Oettinger, Deutschlands EU-Kommissar für Haushalt und Personal, der für das ESK zuständig ist. Selbst ehemaliger Pfadfinder, betonte Oettinger, dass das neue Programm ein EFD  PLUS sei und in diesem Sinne ganz eindeutig auf die großartigen Erfahrungen mit dem EFD aufbaue.

Nach der ersten – noch laufenden - Aufwärmphase gehe es nun in die zweite Phase über, die auch Rechtssicherheit schaffen soll: Bis zum Advent werde am Gesetzentwurf gearbeitet. Phase drei beinhalte dann die Weichenstellung für das nächste Jahrzehnt: Er wolle einen Haushaltsvorschlag für den fünfjährigen Finanzrahmen machen, in dem das Solidaritätskorps langfristig auftauche, erklärte Oettinger: „Wer Teil des Solidaritätskorps war, soll dem Projekt verbunden bleiben, denn so ein Dienst präge die Persönlichkeit und auch den Lebensweg entscheidend. Das gelte es auch den Unternehmen und Arbeitgebern zu vermitteln: Wer einen Solidaritätsdienst im Ausland geleistet hat, hat Sozialkompetenzen entwickelt und kein  „Lebensjahr“ vertrödelt, so Oettinger. Der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg rief ebenfalls dazu auf, Änderungsvorschläge zum vorliegenden Entwurf zu machen und reklamierte auch für das EU-Gesetzgebungsverfahren eine Erfahrung des früheren SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck: "Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde."

Klare Positionen der Bundesregierung

Wenn das Programm erfolgreich sein soll, bedürfe es zusätzlichen Geldes, um Menschen mit Behinderungen die Teilnahme zu ermöglichen, gab anschließend Elke Ferner, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesjugendministerium, dem EU-Haushaltskommissar Oettinger mit auf den Weg. Insbesondere zu klären sei auch, was genau Praktika im ESK sind und wie das mit der Arbeitsmarktneutralität in den einzelnen Ländern einhergeht: „Praktika dürfen keine regulären Arbeitsplätze sein, die mit einem Taschengeld abgespeist werden, da muss es eine klare Abgrenzung geben im Gesetz“, plädierte Ferner. Die Staatsekretärin wünschte sich außerdem für 2018 einen Start des ESK nicht nur in den EU-Mitgliedstaaten, sondern von Anfang an für alle Länder, die auch an Erasmus+ teilnehmen. „Ich fände es sehr schade, wenn Kooperationen mit langfristigen Partnern im ehemaligen EFD aufgelöst werden, weil diese keine Mitgliedstaaten der EU sind“, sagte sie und traf damit auf viel Zustimmung bei den Organisationen.

Angebot und Nachfrage passen noch nicht zusammen

Seit Dezember 2016 können Jugendliche ihr Profil in der Datenbank des ESK angeben. Drei Monate später, im Februar diesen Jahres konnten Organisationen die Jugendlichen darüber kontaktieren, erzählte Robert France aus der Generaldirektion Bildung, Jugend, Sport und Kultur der EU-Kommission. Aber der Prozess sei noch nicht optimal: Angebot und Nachfrage müssten noch besser abgestimmt werden, es werde noch zu wenig angeboten für die über 35.000 registrieren Jugendlichen.

An sieben Thementischen wurde anschließend über die Abgrenzung des ESK zu Erasmus+, das Thema Inklusion, die Qualität von Freiwilligendiensten und die Qualitätssicherung gesprochen sowie über beschäftigungspolitische Aspekte und Vernetzungsaktivitäten.

Am Thementisch „Inklusion“ moderierte Christof Kriege von JUGEND für Europa: „Etwas, das Mut macht, ist das vorgesehene „in-country-Format“, also kürzere Freiwilligeneinsätze im eigenen Land. Das scheint besonders für Jugendliche mit Einschränkungen interessant“, sagte er. Andreas Schwab von ICJA Freiwilligenaustausch weltweit ergänzte: „Für unsere Arbeit mit Geflüchteten sind besonders diese Möglichkeiten interessant: Einsatzmöglichkeiten über den Bundesfreiwilligendienst sind schwierig oder begrenzt und für uns ist die Frage, ob und wie man mit dem ESK die Beschäftigungsfähigkeit von Geflüchteten fördern kann. Das wäre ein großer Wunsch von uns.“

Offene Fragen

Beim Thementisch „Qualität von Freiwilligendiensten“ ging es lang um die Frage, was Solidarität überhaupt bedeutet. Angemerkt wurde, dass das für Jugendliche nicht unbedingt das Hauptmotiv ihres Engagements ist. Die Qualität und Anzahl der Seminare müssten zudem unbedingt gehalten werden – digitale Dienste könnten diese nicht ersetzen. Insbesondere kritisch gesehen wurden Beispiele von Einsätzen in Krisen- oder Katastrophenfällen, wie etwa bei einem Hochwasser: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da eine ausreichende pädagogische Begleitung gibt und sehe da auch keinen Lerneffekt im Sinne des non-formalen Lernens wie in einem EFD-Einsatz“, sagte Julia Motta von Bildung& Beratung.

Auch beim Thema Qualitätssicherung gibt es Klärungsbedarf: Vor allem die künftige Rolle der Entsendeorganisationen war vielen Teilnehmern nicht klar – auch die Rolle der Nationalen Agentur nicht, beispielsweise was den Beschäftigungsstrang angeht. Plädiert wurde, dafür auf Bewährtes, wie etwa den Youthpass zurückzugreifen. „Der Bewerbungsprozess in dem Portal und das „matching“ selbst sind nicht besonders niedrigschwellig und oft fehlt es an Orientierung für Jugendliche“, findet Bea Hackbarth von lernSINN erlebBAR. Mathias Busweiler vom Evangelischen Freiwilligendienst der Diakonie Hessen fragt, wer das geplante Qualitätssiegel brauche und wie die Implementierung gedacht sei.

Kritik gab es auch zu den beschäftigungspolitischen Aspekten des ESK. „Gibt es irgendeine Form von Begleitung und Betreuung bei Praktika? Wie werden diese Leute geschult?“, fragte Christina Schulte von Via e.V. Auch die Abgrenzung zum ehemaligen Leonardo-Programm war vielen nicht klar. Was die Bezahlung angeht gäbe es außerdem rechtliche Hürden in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten. „Praktika und Berufserfahrung sind etwas völlig anderes als der Europäische Freiwilligendienst, dann lieber ein eigenes Beschäftigungsprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit“, sagte Susann Mannel vom soziokulturellen Zentrum „Die Villa“ in Leipzig. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit sei nicht über das ESK zu lösen, denn hochqualifizierte junge Menschen werden auch nach einem Einsatz keine Perspektive in ihrem Land haben, findet sie.

Eggert Hardten vom Mostar Friedensprojekt e.V. setzt einige Hoffnungen in das neue Programm: „Ich möchte unser Haus in Westbosnien beleben mit Freiwilligen aus Europa in sozialen und ökologischen Projekte auf dem Land und auch das Thema EU-Erweiterung und Integration ansprechen. So ein Programm bringt mehr Freiheit und neue Perspektiven in den Ort und ich denke, da gibt es mit dem ESK Möglichkeiten für.

Wie geht es nun weiter?

In der abschließenden Podiumsdiskussion setzten sich Uwe Finke-Timpe als Referatsleiter im BMFSFJ, Robert France, Hans-Georg Wicke, Lisi Maier als Vorsitzende des DBJR und Annette Mütter vom IKAB Bildungswerk mit genau diesen Fragen auseinander. Maier betonte: „Für uns ist die Frage, ob das ESK, das wie ein Stern scheint, die harte Arbeit der Organisationen an der EU-Jugendstrategie  dann ab 2018 überstrahlt und wenn man schon so viel Geld aus Erasmus+ rauszieht, ob die EU-Jugendstrategie dann nicht auf einem Abstellgleis steht.“

Wicke betonte, dass auch er Hoffnungen und Befürchtungen hinsichtlich der Jugendstrategie habe: „Die fördertechnische Aufteilung auf zwei Programme könnte ein jugendpolitische Schwächung bedeuten, weil die etablierte Marke „EFD“ verschwände. Robert France versuchte den Trägern ihre Bedenken zu nehmen: „Ich glaube dass es möglich sein wird, die gleichen Themen und Projekte zu entwickeln wie bisher. Was die Praktika und Arbeitsstellen angeht, glaube ich nicht, dass wir 2018 die perfekte Lösung haben werden, aber wir können Dinge ausprobieren.“ Annette Mütter sagte: „Bei Erasmus+ ist ein großer Bereich der non-formalen Bildung zugeordnet, bei der die Beschäftigungsförderung nicht vorrangiges Ziel ist. Unter dem Mantel der Solidarität könnte es da zu einer Vermischung kommen.“

Nun steht das Trilog-Verfahren mit Europäischen Parlament und dem EU-Rat an: Ende Oktober soll es einen überarbeiteten Entwurf des Rechtstextes geben. Ambitioniertes Ziel sei es,  eine erste Antragsrunde im neuen EU-Programm für März 2018 anzubieten, wenn Parlament und Rat rechtzeitig zustimmten, gab Robert France den Trägern bekannt.


Text und Foto: Lisa Brüßler, Berlin

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Einen Überblick zu den Inhalten des Rechtsvorschlags der EU-Kommission als PDF-Dokument

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